Katrin Klemm Storytelling Trauer

Ja, du darfst traurig sein

Warum Trauer jetzt auch in Ordnung ist.

Wie sich Traurigkeit im Alltag integrieren lässt.

Seit ein paar Tagen ist nichts mehr, wie es war. Wir wähnten uns sicher. Kriege weit weg. Ist zwar alles schrecklich. Doch eben nicht vor unserer Haustür…

Und jetzt? Plötzlich ist alles anders…

Unruhe, Betroffenheit, Bestürzung, Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit, Verzweiflung, Mutlosigkeit, Grübeln – die vielfältigen Gesichter der Trauer. Trauer um unser Gefühl verlorener Sicherheit?

Keines dieser Gefühle ist klein. Keines neu. Doch lernen wir nur langsam sie wahrzunehmen, zu verstehen, akzeptieren und uns respektvoll und ohne Angst darüber auszutauschen.

Alltägliche Trauer ist oft unsichtbar.

Mundwinkel senken sich, über der Nasenwurzel steigen die Augenbrauen, der Blick fällt. Ohne zu wissen, was wir da sehen, berührt es uns. Untrügliche Zeichen für Trauer. Wenn Menschen sterben – so wie aktuell – sind wir sofort „im Bilde“.

Doch Trauer oder Kummer sind Gefühle, die uns im Leben häufiger begegnet als uns bewusst ist. Dabei ist Trauer eine natürliche Begleiterin in unserem Alltag. So lange wir nicht alles tun, sie zu ignorieren, verdrängen oder angestrengt zu verbergen.

Ich erlebe immer mehr Menschen, die das ständig tun, ungeachtet der Folgen, die das für unseren Körper und unsere Seele haben kann. Weil Trauer keinen (oder wenig) Raum in unserer Gesellschaft hat, weil sie anstrengend ist oder die Nicht-Trauernden hilflos macht. Kurzfristig hilft Verdrängen beim Überleben. Klar, keine/r heult gern im Büro. Was sollen denn die anderen denken?

Wie gehst du mit dem Gefühl der Trauer um?

Hör kurz deinen eigenen Gedanken zu!

  • Ich weiß nicht mehr weiter. Doch das darf keiner erfahren.
  • Ich bin die Chefin des Ladens. Ich muss den anderen Hoffnung machen.
  • Reiß dich zusammen, Tränen bringen dich auch nicht weiter.
  • Je weniger ich mich reinfallen lasse, desto schneller geht das vorbei.
  • Heulen ist was für Weicheier. Ich muss nach vorne schauen.
  • Ein Junge weint nicht. Ein ganzer Kerl schon gar nicht.

Es sind Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Überzeugungen, die wir gelernt haben. Von unseren Eltern, Großeltern oder weiter zurück in der Generationenfolge. Wir haben diese alten Geschichten „Wie man sich im Falle von… zu verhalten hat“ mitgenommen und fragen nicht mehr nach, ob sie für uns heute noch gültig sind. Aus unseren gesamten aktuellen sozialen Leben – Jobs, Freizeit, Politik, Medien – schnappen wir täglich Stories auf von dem, was angemessen oder erwünscht ist. Wie wir sein sollten, um dazuzugehören. Oder hervorzustechen (je nachdem, was für dich gerade dran ist).

Wir pressen uns in ein Korsett von Geschichten, die andere für richtig halten. Auch im Umgang mit Trauer und Verlust. Dabei gehört Trauer zu den unvermeidlichen Erfahrungen unseres Lebens. Sie braucht Raum. Und sie braucht Zeit.

Schau deiner Trauer ins Gesicht

Anfang September lerne ich auf einer Fortbildung im Lotsenhaus Hamburg von Peggy Steinhauser, dass der Bundesverband TrauerbegleitungTrauer als eine natürliche Reaktion auf den Verlust eines Menschen, eines Tieres oder einer Sache“ definiert, „zu der eine bedeutende Beziehung bestand“. Dass selbst diese Definition erst Schritt für Schritt erarbeitet werden musste, in der Diskussion, was daran “richtig” oder “falsch” sein kann. Neugierig geworden auf die Arbeit von Trauerbegleiter*innen erfahre ich, dass es darum geht: „Trauer als eine lebensbegleitende Erfahrung anzunehmen“. Diesen Gedanken einen Tag lang nachzugehen wird zu einer spannenden (Selbst-)Erfahrung.

Eingeladen zum Brainstorming: „Wie reagierst du, wenn du traurig bist? Was tust du, wenn du etwas verloren hast?“, brauche ich eine Weile, um mich zu erinnern, in welchen Formen ich dem Verlust in meinem Leben schon begegnet bin. Denn verlieren kann man Menschen (Tiere, Dinge) nicht nur durch den Tod, sondern auch durch Beziehungen, die sich lösen, wenn du umziehst oder die Schule/ den Arbeitsplatz wechselst. Auch der Verlust von Dingen kann uns in den Abgrund der Gefühle stürzen.

Denk an das herzzerreißende anhaltende Geschrei von Kindern, die ihr Schmusetier draußen verloren haben, an ein Elternhaus, das abgerissen wurde oder ein ganzes Land, das es dem Namen nach nicht mehr gibt (DDR) oder als demokratischen Staat (Ukraine) nicht mehr geben soll.

Wann immer du eine Beziehung dazu aufgebaut hattest, die dir etwas bedeutet hat, kann Trauer entstehen, wenn der/die/das plötzlich aus deinem Leben verschwindet.

So sah mein erstes Mindmap aus.
Katrin Klemm StoryCoach - Storytelling Mindmap Trauer

Und was hast du verloren?

Plötzlich sehen wir sie überall, die Augenblicke ganz alltäglicher Trauer. Sie stehen ganz natürlich neben Momenten der Freude, der Anstrengung, des Glücks, des Ärgers… Doch Trauer ist – im Vergleich zu kochender Wut, brodelndem Ärger, überschwänglicher Freude – eher leise, still, sanft, sprachlos.

Welche Verluste kennst du aus deinem Leben? Wer/was war dir lieb und teuer und doch musstest du sie/ihn/es gehen lassen? Wenn du dich darauf einlassen willst, nimm dir einen Augenblick Zeit und gehe in deiner persönlichen LifeStory Schritt für Schritt zurück.

  • Ein Liebe, die nicht gehalten hat, obwohl sie so gut begann.
  • Ein Kind, das eine Klasse wiederholen muss und jetzt seine Mitschüler*innen verliert, obwohl du im letzten Jahr Homeschooling wirklich alles gegeben hast.
  • Ein Elternteil, das du eigentlich gar nicht kennst, weil sie/er gegangen ist, als du noch ganz klein warst.
  • Ein Haustier, das an Altersschwäche gestorben ist, nachdem es dich ein Leben lang begleitet hat.
  • Ein Kunde, dessen Erwartungen du nicht erfüllt hast und der sich einen anderen Dienstleister gesucht hat.
  • Eine Bewerbung, bei der du abgelehnt wurdest, obwohl du perfekt auf die Stelle gepasst hättest.
  • Der Bänderriss vom letzten Jahr, der dich jetzt eine Stunde für die Laufstrecke kostet, die du sonst in dreißig Minuten geschafft hast.
  • Innere Anteile in dir – vielleicht kindliche Spielfreude oder ungebremstes Vertrauen in die Welt – die sich im Laufe deines verantwortungsvollen Erwachsenenlebens vom Acker gemacht haben.
  • Nicht zuletzt all die Dinge und Begegnungen, die Reisen und Freiheiten, die uns in den letzten Monaten der Pandemie verwehrt blieben, obwohl wie sie vorher als Selbstverständlichkeit in unserem Alltag betrachtet haben.
  • Das Vertrauen, dass wir in Europa niemals einen Krieg erleben werden…

Erlaube dir deine Trauer - schau dir die Geschichte dahinter an - StoryCoaching Katrin Klemm

All das gehört zu dir. Erlaube dir zu trauern.

Du darfst den ganzen Prozess erleben. Du darfst sie spüren und sich wieder auflösen lassen. Erkennst du sie an, wird sie ihr ganzes Potential für dich entfalten. Sie wird zu einer wahren emotionalen Kraft, die dir so viel mehr ermöglicht: Mitgefühl, Tiefe, Selbstmitgefühl, #echtsein

Neue Narrative zur Trauer, die dir helfen, echt zu sein oder zu werden:

  • Jede/r trauert anders. Steh zu dem, was du fühlst. Erlaube dir, so zu sein, wie du bist. Du bist richtig.
  • Trauern ist ein Verb, ein natürlicher Prozess des Übergangs in unserem Menschenleben. So wie das Geborenwerden, wie Pubertieren, wie Sterben. Nimm dir Raum und Zeit, die du brauchst.
  • Lass dir von niemandem erzählen, wie du „richtig“ mit dieser Emotion umzugehen hast. Von wegen „das ist doch nicht so schlimm.“ Doch. Für dich ist es das in dem Moment. Oder nach sechs Monaten „das muss doch jetzt endlich mal vorbei sein“. Es dauert, so lange es dauert. Oder „das Leben muss weitergehen“. Keine Sorge, das tut es, darauf kannst du dich verlassen. Auch wenn es sich für dich im Moment nicht so anfühlt.
  • Bitte um Hilfe oder Unterstützung, wenn du es möchtest. Manche Dinge muss man mit sich allein ausmachen. In anderen Fällen hilft es, drüber zu sprechen. Sag auch deutlich, wenn du keine Ratschläge brauchst, sondern einfach nur ein Ohr zum Zuhören. Echte Freunde halten das aus.
  • Vielleicht suchst dir Geschichten, die dir helfen Gefühle von Verlust, Traurigkeit und Hilflosigkeit um eine Perspektive zu erweitern. Eine der heilsamsten Geschichten für mich im Umgang mit dem Tod wurde die Geschichte vom Gingkoblatt .

Lasst uns einander zuhören, allen Facetten der Trauer Raum schaffen und dann aufstehen und weitergehen. Zusammenstehen und für das Einstehen, das wir brauchen und schützen.

Und dann lasst uns aktiv werden. Lasst uns mit allem, was uns möglich ist. Hier hat das ZEIT MAGAZIN einen Überblick vom Möglichkeiten zusammengestellt.

 

2 Kommentare
  1. Elbmedien Stephanie Wiermann sagte:

    Liebe Katrin,
    das hast du wieder so gut geschrieben und zusammengefasst! Danke dafür!
    Ich bin so traurig! Ständig und immerzu und freue mich trotzdem zeitgleich über die Gänseblümchen und den Vogelgesang – irgendwie geht das. Um aus der Starre rauszukommen habe ich gesammelt und spende monatlich. Vielleicht geht noch mehr.

    Alles Liebe Stephanie

    Antworten
    • Katrin Klemm sagte:

      Liebe Stephanie – danke für dein Offenbleiben für alles, was unsere Zeit von uns will. Respekt, wie du es nicht nur schaffst aus der eigenen Starre herauszukommen sondern gleichzeitig anderen etwas von deiner Kraft abzugeben. Diese Gleichzeitigkeit ist nicht leicht auszuhalten und doch lernen wir Schritt für Schritt wie es gehen kann. Liebe Grüße Katrin

      Antworten

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