Mit guten Geschichten sicher über die Straße
Nach drei Wochen Thailand – dem Land des Lächelns, sonnenheiß und beschaulich – ist die Ankunft in Vietnams Hauptstadt Hanoi ein Schock.
Temperatursturz um fünfzig Prozent. Der Himmel nieselgrau. Diese irre Geschwindigkeit, in der du dich hier für ein Geschäft entscheiden sollst. Nach dem Umtausch hast du ein paar Millionen in bunten Scheinen in der Hand, bist automatisch Dong-Millionärin.
Dazu ein ohrenbetäubende Gehupe auf den Straßen. Augenblicklich befällt mich das Gefühl, aggressiv in alle Richtungen gescheucht zu werden. Kaum eine Chance, die Straße zu überqueren, wenn du nicht weißt, wie es geht.
Hilfe, was mache ich hier?
Kulinarische Neugier, zum einen. Vietnam, berühmt für seine kulinarischen Schätze, wollte ich schon immer mal “befuttern”.
Geschichten meiner Kindheit auf der Spur
Doch ich bin auch – nach mehr als 50 Jahren – Geschichten meiner Kindheit auf der Spur.
Ich war 4 Jahre alt, da “kämpfte” ich schon für die Befreiung Vietnams. Spendete mein Spielzeug für napalmverbrannte Kinder, die mir der „Bummi“ (Zeitschrift für Vorschulkinder in der DDR) auf Fotos zeigte. Verstanden habe ich damals nicht viel. Doch ich war bereit, dem sozialistischen Bruderstaat zu helfen. Seitdem heißt Solidarität für mich Menschen zu unterstützen, denen es nicht so gut geht wie mir.
Und wie sieht es heute aus?
Ich erwarte Grau in Grau in einem der letzten sozialistischen Länder. Doch ich erlebe dicke Autos. Hunderte von Mopeds verstopfen Straßen. Frauen verkaufen auf der Straße Frühstückssuppe vom Fahrrad. Menschen hüllen sich in Prada und Gucci. Ich entdecke eine Hauptstadt krasser Gegensätze aus arm und reich.
Zuhören, um zu verstehen
Ich will mehr wissen, will besser verstehen, will zuhören und habe Glück. Denn Christian Oster hat Zeit für uns.
Der Journalist (in Hambug geboren) lebt seit über 20 Jahren in Hanoi. Mit seiner Firma Hanoikultour vermittelt er überraschende authentische Einblicke in die Alltagskultur, fern von Klischee und touristischem Schnickschnack. Bei diesen Referenzen – Angela Merkel, Franz-Walter Steinmeier und auch Juli Zeh waren schon da – erwarte ich spannende Geschichten. Nach 3 Stunden bin ich überzeugter Fan. Er nimmt sich Zeit für meine tausend Fragen.
Man gönnt sich die Lücke
Doch zunächst einmal hilft er mir über die Straße. Lädt mich ein, ihre Energie zu beobachten.
Ich solle den “Straßenverkehr als Spiegelbild der Gesellschaft sehen”, sagt er. „Man gönnt sich die Lücke.“
- Ampeln und Zebrastreifen tragen Empfehlungscharakter.
- das Gewimmel aus Protzautos und hunderten Mopeds folgt einer unsichtbaren Choreografie.
- meine Aufgabe als Fußgängerin: Störe nicht!
Das bedeutet: Loslaufen – wach, achtsam, doch ohne stehenzubleiben. Stehenbleiben hilft hier niemandem.
Komm klar mit dem, was ist.
Stehenbleiben nutzt keinem.
So wie man sich im Verkehr die Lücke gönnt, bedeutet das Hupen eher freundliches „Hier bin ich“ als ein „Mach Platz, du Idiot, die Straße gehört mir“ (Grüße nach Berlin, Dresden, Hamburg). Das gelte auch für die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und ihre Einkommensverhältnisse.
Natürlich bekommt man in der Hauptstadt mehr von den turbokapitalistischen Bestrebungen mit als auf dem Land (Statista Wirtschaftswachstum Vietnam). Doch es gäbe keinen Sozialneid, man könne sich gönnen, erzählt Christian. Den Porsche des Nachbarn bestaunend, sei der Gedanke eher „Wow, der hat es geschafft, und irgendwann komme ich auch dort hin“ statt des in Deutschland gern üblichen „Wieso hat der, was ich nicht habe?“
Wir sprechen über
- den Konfuzianismus als Philosophie (Mann steht über Frau, Alt über Jung), der den Klebstoff für Sozialismus und Kapitalismus zugleich bildet: Mäuse, Kohle, Money, Zaster und den Pragmatismus, wenn es darum geht, seinen Ahnen am Altar etwas Gutes zu tun
- die für deutsche Verhältnisse unfassbare Alterspyramide von 90 Prozent der Menschen zwischen 0 und 64 (Statista)
- Religion und die Unterschiede zwischen gesteuertem und unerwünschten Buddhismus.
- darüber, dass Copyright hier auch mit “das Recht zu kopieren” übersetzt wird. Wir besuchen die Thang Long Gallery in der der Künstler Ngo Van Sac trotzdem unkopierbare Kunst ausstellt, und damit Frauen der 53 ethnischen Minderheiten unverwechselbar und berührend sichtbar macht.
Und noch so unendlich viele Insights:
Warum es gut ist, günstig zu essen
Wir berechnen die Gewinnspanne der StreetFood-Köchinnen. Auch wenn eine grandiose Pho Ga (meine Lieblingsnudelsuppe, die man mit sächsischen Dialekt wunderbar aussprechen kann) nur 40.000 vietnamesische Dong (weniger als 2 €) kostet, steht ihr guter Ruf auf dem Spiel, wenn es nicht schmeckt.
Fleisch ist hier immer frisch, weil es nur morgens für das Mittagessen und erst am Nachmittag fürs Abendessen verkauft wird.
Ab heute berücksichtigen wir Christians pragmatische „3 eiserne Regeln“:
- Geh dahin, wo es nur genau ein Gericht gibt.
- Meide Läden, in denen viele Fotos hängen = Touristenfalle.
- Schau selbst in den Topf, ob dir gefällt, was du da siehst.
Frauen arbeiten viermal so viel wie ein Mann
Aufgrund konfuzianischer Historie steht heute noch der Mann über der Frau. So haben Frauen zwar im Haus das Sagen. Doch während Männer tagsüber im Sessel hocken, und schon am Vormittag Alkohol trinken, arbeiten Frauen das Vielfache eines Mannes. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist noch immer normal. Selbst wenn die Polizei auf dem Land die Nachbarn befragt, sind die schon vorher gut „geschmiert“.
Wir spüren die Anteilnahme des Mannes, der hier erzählt. Doch er teilt auch Hoffnung. Immer mehr Frauen (spätestens, wenn die Kinder aus dem Haus sind) schlössen sich mit anderen Frauen zusammen, um als Frau freier zu leben und wirtschaftlich voranzukommen.
Doch es bleibt noch unendlich viel zu tun.
Viele Vietnamesen sprechen deutsch
Wir sprechen über vietnamesische Gastarbeiterinnen in der DDR, die strengen Regeln, die für sie galten (mehr zu den Gastarbeitern in der DDR), und über alte Seilschaften in die aktuelle Regierung, die noch immer funktionieren.
Und ja, mir läuft es kalt den Rücken herunter, wenn ich das höre. Alte Geschichten aus Kindheit und Teenagerzeit tauchen auf, aus diesem deutschen Land, das es nicht mehr gibt.
Geschichten von Gemeinschaftssinn und gleichzeitig der Politik, gezielt Angst zu schüren und zu nutzen. Lautsprecher hängen an den Straßenecken wie Überbleibsel aus dem Kalten Krieg (The Guardian). Sie werden werden in letzter Zeit wieder verstärkt genutzt. Nicht nur, um Propaganda zu verkünden, sondern auch mitzuteilen, wenn der Nachbarn seine Steuern nicht bezahlt hat…
Was für eine unerschöpfliche Story-Quelle
Lieber Christian Oster, es war so ein intensiver Vormittag. Vermutlich hab ich nur die Hälfte der Geschichten behalten, die du mit uns geteilt hast. Ich danke dir herzlich und werde in den zwei Wochen, die ich noch in diesem spannenden Land habe, noch viel genauer hinschauen.
Denn ich habe noch so viele Fragen. Wenn du in Hamburg bist, komm gern beim StoryTeller vorbei. Ich werde meine besten Rezepte probieren, die ich aus Vietnam mit genommen habe.
Vertrauen und Klarheit bringen weiter.
Auch im dichtesten Verkehr.
Last but not least:
Das mit dem Straße-Überqueren übe ich noch immer.
Doch ich habe gelernt: Vertrauen und Klarheit bringen mich weiter.