Was Geschichten auf Autopilot anrichten können
Was mich eine Tüte Tiefkühlgemüse über freundliche Gedanken lehrte.
Verachtung, Scham und Freundlichkeit: so schnell kann es gehen.
Sommerabend in Portugal. Azurblau geht der Tag zu Ende. Die Restaurants in Porto haben Hochbetrieb. Hier findest du alles – von bodenständiger Hausmannskost bis zu raffinierten Kompositionen aus dem kulinarischen Himmel. Ich liebe es.
Doch heute muss ich vorbeigehen an den Menschen, die entspannt ihren Vinho Verde genießen, den Mund schon wässrig von den Düften, die aus den Küchen auf die Straße dringen.
Ich trage eine Tüte Tiefkühlgemüse in den heißen Händen.
Wir schlendern durch die Gassen. Blickkontakte, Lächeln, gelöste Stimmung.
Bis zum Moment, in dem mich dieser verächtliche Blick trifft. Ein hochgezogener Mundwinkel, der andere zusammengepresst, scannt mich sein Blick blitzschnell von oben nach unten ab. Er tuschelt mit seiner Partnerin. Jetzt schütteln beide den Kopf.
Und dann sagt er es laut „Bäh, wie kann man hier nur so was essen?“
Geschichten auf Autopilot können vernichten.
Mich erwischt es, als hätte er mich mit kochendem Wasser übergossen.
Ja, ich trage eine Tüte Tiefkühlgemüse mit mir herum.
Doch ich tue es nicht aus Vergnügen. Lieber würde ich bei frittierten Bacalhau-Bällchen, Hähnchen Piri-Piri, zum Nachtisch Pastel de Nata ordentlich zulangen.
Doch ich habe einen Rheuma-Schub. Das bedeutet für mich brennende Hände, Gelenke, die schwer zu bewegen sind, Flaschen, die ich nicht aufdrehen, Taschen, die ich nicht heben kann. Es schränkt mich so fies ein, dass ich freiwillig alles tue, um es in Schach zu halten. Auch vegane Ernährung hilft sehr, die Medikamentendosis im Griff zu behalten.
Allerdings ist vegan in portugiesischen Restaurants nicht so einfach.
Wir gehen weiter. Ich kann dem Paar nichts erwidern. Wozu auch?
Doch meine Gedanken stehen nicht mehr still.
Noch nie habe ich aus dieser Sicht auf Diskriminierung geschaut. Was es mit uns machen kann, so direkt von dieser Emotion Verachtung getroffen zu werden.
Wir reden von Diskriminierung, wenn es um Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht etc. geht. Hatte ich bisher noch nie ein Problem damit. Doch heute hat es mich eiskalt erwischt.
Zuerst bin ich hilflos, traurig. Dann werde ich wütend: „Was fällt ihm ein, ein Urteil über mich zu fällen? Über mich zu richten, ohne dass er meine Geschichte kennt?”
Jeder erzählt sich Geschichten auf Autopilot.
Erst wird es still in mir. Dann werde ich neugierig: “Welche Geschichte erzählt er sich wohl über mich?“ Die nächste Frage taucht auf: „Bin ich denn völlig frei davon?“ Erzähle ich mir nicht auch blitzschnell Geschichten, zum Beispiel wenn
- mein Gegenüber stinkt wie ein Iltis
- sich ein Paar in aller Öffentlichkeit lautstark verbal zerfleischt
- der Jugendliche im Bus gezielt den alten Mensch übersieht, der zu schüchtern ist, um einen Platz zu bitten
- die Mutter mit dem Kind im Lastenrad im Schneckentempo vor mir her dümpelt
- …
Aus unseren Beobachtungen im Außen rasch zu bewerten, was gespielt wird, und uns dann angemessen zu verhalten, das haben wir erlernt. Es ist notwendig, es führt uns durch unsere Alltagsroutinen. Hilft uns zu entscheiden.
Jede/r von uns hat Vorstellungen im Kopf, wie die Welt zu sein hat. Doch so ist sie nicht immer… Manchmal feixt sie uns ins Gesicht.
Mir auch.
Die Entscheidung liegt bei mir. Immer.
Doch ich bin die einzige, die sich entscheiden kann, den Autopiloten zu stoppen.
Was ich aus diesem Urlaubsmoment mitnehme:
- den feste Vorsatz, mein automatisches Geschichtenerzählen zu entschleunigen. Ich werde bewusster die Stop-Taste drücken, wenn ein Gefühl mir sagen will, ich hätte recht. Vor allem in Momenten, in denen das, was ich beobachte nicht in mein Weltbild passt.
- Die Entschlossenheit, mich weiter kraftvoll dafür einzusetzen, freundlicher miteinander umzugehen. Das beginnt schon in Gedanken.
- Die Einladung an euch, lieber neugierig als allwissend zu sein. Du kannst nicht wissen, welche Geschichte hinter dem Menschen dir gegenüber steckt.
Meine 3 Hacks, den Autopiloten zu stoppen
Wenn du aufhören willst, dir automatisch Geschichten über andere zu erzählen, die weder hilfreich noch nützlich – oder potentiell sogar verletzend – sind, hilft dir vielleicht eines meiner Tools.
- Das gute alte klare STOPP-it als inneren Befehl an mich selbst. Nein, eine freundliche Einladung bringt mich persönlich nicht weiter. Meine Erzählmaschine braucht eine klare Ansage.
- Zurück ins Hier und Jetzt mit der Frage “Was tue ich hier gerade?” Gern im Anschluss auch: “Wem nutzt das?”
- Wird es mal richtig heftig, weil mir jemand gezielt eine verpasst hat, hilft mir der Satz, der mich seit meiner Clownsausbildung begleitet “Das ist ja interessant!” Zugegeben, vom Aussprechen dieser vier Worte ins tiefe Gefühl der wertfreien Betrachtung zurückzukommen, hat auch mich Übung gekostet. Doch es hat sich gelohnt. Heute wirkt er sofort, wieder wach und klar zu sein.
Hast du auch so einen Satz? Oder andere Tools, mit denen du es schaffst, deinen Autopiloten unfreundlicher Geschichten über andere zu stoppen?
Teile ihn gern in den Kommentaren.
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