Raushalten bringt es nicht – GoodRead Nr. 1
Meine Good Reads Sommer 23
Mit MyGoodReads stelle ich Bücher vor, die mich in diesem Sommer bewegen – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Doch immer geht es um Stories. Um die Geschichten, die hinter allem und in allem stecken.
Ich zeige dir, dass die Möglichkeiten von Storytelling weit über die gern genommene Anwendung als Marketing-Werkzeug hinausgehen. Ich lasse dich teilhaben an den Themen, in denen ich ständig mein Wissen erweitere, um dir eine kompetente und erfahrene Begleiterin auf deinem Weg zu mehr Lebensfreude und beruflicher Erfüllung zu sein.
Es handelt sich – in Auswahl & Bewertung – um meine ganz persönliche Sichtweise. Fühle dich zum Dialog herzlich eingeladen, wenn du ähnliche oder ganz andere Gedanken hast oder etwas ergänzen möchtest.
Einsteigen will ich heute mit einem Fachbuch. Es liegt schon eine Weile im Stapel, ist aufgrund des wissenschaftlichen Anspruches komplex und herausfordernd zu lesen. Doch gerade ist Zeit dazu.
Seelenarbeit im Sozialismus
Die Autorinnen sind bis zu 15 Jahre vor mir geboren. Und doch im gleichen Land.
Wozu ich es lese.
Beim StoryCoaching spielen Geschichten, die wir uns über unsere Herkunft und die Systeme erzählen, in denen wir aufgewachsen sind, immer eine Rolle.
Mein professioneller Anspruch: bewusst und behutsam einbeziehen, was damals wahrgenommen, oder (aus gutem Grund) ausgeblendet wurde. Um individuelle Hürden aus dem Weg zu räumen, die dich heute davon abhalten, das Leben zu leben, das du dir wünschst, stelle ich diese Geschichten neben aktuelle gesellschaftspolitische, wirtschaftliche, psychologische Strömungen, die unser Denken und Handeln beeinflussen.
Und neben die Haltung, mit der wir anderen und uns selbst begegnen. Haltung kann zum Beispiel sein:
- Wertschätzung | Abwertung „Ich sehe dein Bemühen um eine passende Lösung.“ versus „Du peilst es sowieso nicht, was kann ich von einem/einer wie dir schon erwarten.“
- Vertrauen | Misstrauen „Was kann ich öffentlich oder unter 4 Augen sagen und was behalte ich besser für mich?“
Worum geht’s? Schlaglichter.
In den Betrachtungen zur „Seelenarbeit“ in der DDR zeigt sich, wie unterschiedlich zugrunde liegende Narrative oder möglichen Perspektiven sein können. Wer wusste was (und wie viel) über die Praktiken, Psychotherapie für die politischen Zwecke des Staates auszunutzen? Konnte überhaupt jemand von sich behaupten, nichts gewusst zu haben? Wer war im Psycho-Betrieb Opfer, wer Täter?
Vertrauen | Misstrauen: eine stete Abwägung
Und wer schützte wen vor wem? Therapeut*innen ihre Patient*innen, indem sie sich unter Berufung auf ihre Schweigepflicht, vielleicht vor den Ausreise-willigen Menschen stellten? Patient*innen ihre Therapeut*innen, indem sie ihr Gegenüber mit Informationen dieser Art „verschonten“, damit jedoch den Therapieerfolg unmöglich machten?
Wie weit konnte man in einem gesellschaftlichen Klima des Misstrauens seinem Therapeuten vertrauen, ihm | ihr etwas Wahrhaftiges anvertrauen?
Vielleicht habe ich aus diesem Grund an meine Rolle als Coach den höchsten Anspruch an Integrität und Verschwiegenheit (Marketingberater nennen mich ein bisschen paranoid 😉, wenn ich mich standhaft weigere Namen oder Fotos meiner Klientinnen zu veröffentlichen).
Doch damals hatten „Wände Ohren“ und harmloses Geplauder – selbst unter Freunden – konnten dich selbst und andere in entsetzliche Zwangslagen bringen. Zeitdokumente oder sehenswerte Filme, wie „Das Leben der anderen“ erinnern an den Zwiespalt aller Beteiligten.
Position beziehen und seelische Gesundheit
Im Beitrag „Die obszöne Frage nach der Freiheit“ – geht es mit „Warst du eine/r von denen? Sonst hättest du doch dort nicht leben können?“, um das immer gleiche “Wissen wollen” adressiert von West- an Ostmensch. Doch die Bandbreite der Antworten – individuell gefühlt und gesellschaftlich erlebt – ist groß. Es geht um Rückschau auf die eigene Einschätzung: welches Risiko war der „Seelenarbeiter“ bereit einzugehen und wo hielt er/sie lieber den Ball flach, weil die erwarteten Konsequenzen untragbar erschienen.
Über die DDR gibt es nach wie vor keine von der Mehrheit akzeptierte Meistererzählung. Sondern die eine von „…sozialer Sicherheit, Gleichheit, Gemeinschaftsgefühl und vielem, das zu Unrecht auf den Abfall der Geschichte geworfen wurde.“ Die andere, „…die vom eingesperrten Volk erzählt, von der Stasi überwacht, drangsaliert und miserabel versorgt.“ (Michael Geyer, Seite 185). Schon bevor es das eigene Land nicht mehr gab, und auch heute noch zerreißt es Bürger*innen mit einer DDR-Vergangenheit zwischen Polaritäten. Wenn in der individuellen Erinnerung weder das eine noch das andere zu 100% unterschrieben werden kann, entstehen biografische Erzählungen, in denen nichts wirklich stimmt.
Im StoryCoaching wird es möglich, auch diese widersprüchlichen Puzzlesteine deiner eigenen Geschichte zu betrachten. Kapitel, die dich geprägt und geformt haben, die du nicht mehr ändern, doch als Teil von dir annehmen kannst, um dann neue Kapitel zu schreiben.
Was es in mir auslöst.
Geschichten sind seit Jahrzehnten meine Leidenschaft. Deshalb bin ich der Worte mächtig, überdurchschnittlich begabt für Text und Subtext. Die Auseinandersetzung mit dem, was gesagt – und lieber nicht gesagt wird, begleitet mich schon mein ganzes Leben.
Spuren durch Erzählen transparent machen
Ende Juni teile ich in einem philosophischen Salon zum ersten Mal bewusst die Geschichte meiner persönlichen ZweiSprachigkeit, diese innere Klarheit, die mich von Kindesbeinen an durchs Leben begleitet. Es gab Dinge, die das Kind aussprechen durfte und die anderen, unaussprechbaren, die es lieber für sich behielt. Die Grenzen dazwischen musste das Kind im Innen ständig neu verhandeln. In der Familie gab es niemanden, der diese Fähigkeit lehren konnte. Die Tiefe dieser alten Spuren verblüfft mich selbst, doch durch das Erzählen werden sie transparent.
Als StoryCoach ist es mein Auftrag, mich rauszuhalten aus deinen Geschichten. Ich biete dir Raum und Struktur, der Inhalt deiner Geschichten gehört dir. Du übernimmst die Verantwortung, welchen nächsten Schritt du gehst. Das passt.
Doch in den gesellschaftlichen Diskursen unserer Zeit – sei es um korrekte Sprache, um Diskriminierungen aller Art, um Diversität, gibt‘s was zu tun für mich. Manche Diskurse werden in einer wenig wertschätzenden Art und Weise geführt. Ich erlebe, dass sich dem um Verständnis und neue Denk-Wege mühenden Menschen erst einmal böser Willen unterstellt wird, statt die gute Absicht und das Ringen um neues Denken anzuerkennen. Recht hat, wer schnell ist und laut. Dann rappelt meine ZweiSprachigkeit in ihrer Kiste: Sage ich etwas dazu? Oder halte ich lieber die Klappe? Die Gefahr, doch nur falsch verstanden zu werden, ist ständig da.
Gute Gründe, nicht zu schweigen
Doch es gibt in unserem Land – gerade jetzt – gute Gründe, dem Schweigen nicht die Führung zu überlassen. Geyer bringt es auf den Punkt (Seite 208)
„Der Untergang der DDR-Diktatur hat eine Leere hinterlassen, die insbesondere von denen, die nie eine Diktatur erleben mussten, zu beherzigen wäre. Eine Diktatur wird durch Gleichgültigkeit, Zynismus und Verstellung ihrer Bürger am Leben erhalten…“, doch „Ein starres und morsches System kann unter günstigen Umständen allein durch Offenheit ihrer Bürger auch ohne Gewalt einstürzen.
Im Gegensatz zur Diktatur ist die Demokratie durch die Gleichgültigkeit ihrer Bürger extrem gefährdet. Auch sie kann nämlich durch die Unfähigkeit der Politiker, die Leere ihrer Phrasen und eine erstickende Bürokratie morsch werden. Sie würde in solchen Zeiten ohne den offenen und gewaltlos ausgetragenen Streit um die Richtung der Politik und den offenen Kampf um den Erhalt der Werte der Aufklärung untergehen. Sie braucht also genau jenes bürgerliche Engagement zum Überleben, das die DDR-Diktatur zum Zusammenbruch brachte.“
In mir zwei Länder, zwei Gesellschaftsformen
Lasst uns miteinander sprechen. Aussprechen dürfen, was nicht leicht zu formulieren ist. Neugierig erkundend. Aufrichtig und wertschätzend mit einem liebevollen Humor. Und die Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz – das Aushalten von Ungewissheit – trainieren. Denn unsere Welt wird täglicher komplexer und es gibt nur noch wenige schnelle unkomplizierte Lösungen.
Ich empfehle das Buch:
Fachkolleg*innen aus Ost und West, die bereit sind, ihren Blick für die Geschichte(n), die Ost-sozialisierte Menschen mit in unsere Coachings, Trainings und Therapien bringen, zu vertiefen, und dabei ihre eigene Rolle und Weltsicht auf die Narrative zu einem „Land das es nicht mehr gibt“ (ein exzellenter Film von Aelrun Goette) zu hinterfragen.
Ausdrücklich ans Herz legen möchte ich den Beitrag „Was bleibt“ – Prägungen und Verwerfungen. Erlebte Psychotherapiegeschichte von Annette Simone, ihr sehr persönlicher Blick auf das, was den Seelenarbeitern in der DDR möglich war und was nicht.
Hast du Erfahrungen und Geschichten aus der Seelenarbeit im Sozialismus? Ich freue mich auf deinen Kommentar.
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